Mai Masri ist in Palästina geboren, in Jordanien aufgewachsen, hat in den USA studiert und lebt heute mit ihrem Mann und ihren Töchtern in Beirut, im Libanon. Sie ist Filmproduzentin und zu Besuch in Palästina um nach Informationen zu recherchieren. Es soll ihre neunte Dokumentation werden, ein Film über palästinensische Kinder und Jugendliche.
Jamil ist 13 Jahre alt. Er sitzt in der Ecke auf einem Stuhl und spielt mit einer Zigarettenschachtel. Sein blutroter Pulli ist ihm viel zu groß, es scheint als würde er darin versinken. Vorne ist ein schwarzes Foto aufgedruckt, Che Guevara, Symbol für Widerstand und Freiheit. Er hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, als würde er sich darunter verstecken wollen. Vor zwei Wochen hat ihn sein Betreuer gefragt ob er bereit wäre an einem Treffen mit 8 anderen Jugendlichen teilzunehmen. Er solle einfach von seinen Erlebnissen und Erfahrungen erzählen. Er hat zugesagt. Nun sitzt er mit den anderen im Stuhlkreis. 9 Jugendliche, 2 Betreuer und Mai. Sie sieht genauso aus, wie man sich eine Filmproduzentin vorstellt. Eine hübsche Frau, schlank und modern gekleidet. Wahrscheinlich sieht sie jünger aus, als sie eigentlich ist. Mit ihrer Sonnenbrille schiebt sie die Haare nach hinten und nimmt ihren Schreibblock aus der Tasche. Sie setzt sich hin, schlägt ihre Beine übereinander und stellt sich vor. Sein Betreuer zieht ihm die Kapuze vom Kopf. Er lächelt beschämt und zieht sie wieder auf. „Mein Name ist Jamil, ich bin 13 Jahre alt und komme aus Beit Ummar“. Beit Ummar ist ein kleines Dorf zwischen Bethlehem und Hebron. „Sie sind nachts gekommen. Irgendwann zwischen 2 und 3 Uhr. Ich bin aufgewacht, weil meine Mama so laut geschrien hat. Ein paar Sekunden später standen sie in meinem Zimmer.“ Wie jeder der Jungen vor ihm und wie jeder nach ihm erzählt auch Jamil seine Geschichte. Er erzählt von den täglichen Problemen mit den Siedlern, von der Ignoranz der israelischen Sicherheitskräfte, von der Verhaftung, von unzähligen Gerichtsverhandlungen und von der Zeit im Gefängnis. Mai lässt ihn erzählen, hackt nur selten nach. Sie schaut ihn die ganze Zeit an, nickt und macht sich gleichzeitig Notizen auf ihrem Block, ohne den Blick von ihm abzuwenden. „Sie haben mich gefesselt und mir die Augen verbunden. Ich lag auf dem Boden. Einer hat seinen Fuß auf meinen Kopf gestellt, dann sind wir zum Militärcamp gefahren.“ Nur einmal haben sie ihn nachts festgenommen. Ein anderes Mal vor der Schule und einmal zusammen mit seinen zwei Brüdern während einer Demonstration. Wie oft er schon vor Gericht war? Er weiß es nicht mehr. Vielleicht 15, 20 Mal. Beim ersten Mal wurde er schon nach drei Tagen wieder freigelassen. Die erste Nacht musste er draußen schlafen. Sie haben ihn gefesselt und mit verbundenen Augen aus dem Jeep geworfen. Am nächsten Morgen haben sie ihn wieder abgeholt und dann dem Richter vorgeführt. Das war vor 4 Jahren. Er macht eine Pause, schaut auf den Boden und kaut nervös auf seinen Fingernägeln herum. Er gräbt dort wo er eigentlich lieber zuschütten würde. Erinnert sich an Bilder, die er eigentlich lieber vergessen würde. Beim zweiten Mal hat ihn sein Onkel nach 40 Tagen auf Kaution freigekauft. Ob er geschlagen wurde? Er lacht. Die Frage ist wohl eher wann er nicht geschlagen wurde. Sie haben ihm die Nase gebrochen. Einer der Soldaten hatte immer ein Stück Plastik in der Hand. Das letzte Mal war er 7 ½ Monate im Gefängnis. Sie haben ihm unterstellt, dass er ein Selbstmordattentäter sei. Am Anfang hat er sich geweigert etwas zu unterschreiben. Dann haben sie einen Palästinenser geschickt der für sie arbeitet. Er sollte ihn überreden zu kooperieren. Doch er hat abgelehnt. Dann hat der Palästinenser den Soldaten gesagt, dass sie es ihm wohl auf eine andere Art und Weise beibringen müssten. „Am Ende habe ich alles unterschrieben was sie wollten.“ Wieder macht er eine Pause, faltet seine Hände und drückt sie so fest zusammen, dass weiße Stellen zurückbleiben. Was sich seither verändert hat? Er musste schon ein Schuljahr wiederholen aber er weiß nicht ob er es diesmal schafft. „Aber ich strenge mich an!“ Seit er wieder bei seiner Familie wohnt und regelmäßig zur Schule geht ist er besser geworden. Alpträume hat er fast immer, aber dafür fast nie Selbstmordgedanken. Außerdem hat er jetzt zweimal in der Woche ein Treffen mit seinem Betreuer. Das ist gut, auch wenn es manchmal alte Wunden wieder aufreißt. Ob er etwas Positives aus der Zeit ziehen kann? Er seufzt, lässt seine Finger knacksen. Nach kurzem Überlegen antwortet er: „Ja, ich hab Hebräisch gelernt.“ Das hilft ihm auf seinem Schulweg denn zwischen dem Haus seiner Eltern und der Schule liegen zwei Checkpoints. Zum Abschluss soll er in zwei, drei Worten beschreiben, was diese Erfahrung für ihn bedeutet hat.
„Ich kann es auch mit einem Wort – Lebenszerstörung“
(Filme/Dokumentationen von Mai Masri: Frontiers of Dreams and Fears, Children of Shatila, 33 Days, Beirut Diaries, Children of Fire, Suspended Dreams, Hanan Ashrawi, War Generation Beirut)