Eine tickende Zeitbombe

Ich glaube ich habe immer schon zu denjenigen gezählt, die in politischen Diskussionen unsere Bundesrepublik verteidigen. Ich weiß, was für ein Glück und Privileg es ist, in einem Land wie Deutschland leben zu können. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden, eine funktionierende Wirtschaft, ein Sozialversicherungssystem und eine super Infrastruktur – verglichen mit dem Rest der Welt leben wir auf einer Insel! Kein System ist perfekt und es wird immer Lücken, Mängel und umstrittene Entscheidungen geben aber ich denke trotzdem, dass wir oft zu wenig schätzen, was wir haben. Die Demokratie ist eben nur das zweitbeste System, das Beste wurde noch nicht erfunden (vgl. Churchill). Manchmal glaube ich, dass ich eine ausgezeichnete Pressesprecherin der Regierung abgeben würde! Trotzdem muss ich mich auch zu denjenigen zählen, die ab und zu auf hohem Ross sitzen und sich über ihre Luxusprobleme auslassen. Ich denke, dass es jedem so geht, der mal einige Zeit im Ausland verbracht hat, plötzlich weiß man wieder zu schätzen was man zu Hause hat. Neben all den Rechten und Freiheiten die wir in Deutschland genießen gibt es noch etwas, das ich ab jetzt mehr schätzen werde: Unsere typisch deutsche, weltweit einzigartige, absolut akribische, völlig übertriebene Mülltrennung!
Jeder kennt das: Samstag ist Wertstoffhoftag! Die Zeitungen in den Papiercontainer, die Joghurtbecher zum Plastikmüll und den alten Bildschirm zum Elektroschrott. Doch jetzt wird’s schwieriger: Wie war das nochmal mit den Tetra Paks? Außen Karton, innen Alu. Ah, dafür gibt’s sogar ‘nen extra Container – Verbundstoffe! Da beschäftigt man sich tagtäglich mit Fragen wie: Was ist noch Papier, was schon Kartonage? Kommt die Bananenschale auf den Kompost oder in die Biotonne? Ist es wirklich so schlimm, wenn man die leeren Batterien einfach in den Restmüll schmeißt?
Ich glaube nicht, dass die Palästinenser verstehen können, was die Deutschen da schon wieder für einen Zirkus machen. Wenn man in Palästina die wunderschöne Landschaft genießen möchte, sollte man vorher die „Deutsche-Sozialisations-Brille“ abnehmen, sonst läuft man Gefahr an Augenkrebs zu erblinden. Rechts und links am Straßenrand, auf freien Grundstücken, in der Innenstadt, auf Baustellen, in den Feldern, auf den Hügeln, in der Wüste, egal wo man hinsieht – Müll!
Wenn man in Palästina einkaufen geht und man kauft 5 verschiedene Sachen, dann wird das in 5 verschiedenen Plastiktüten eingepackt. Wenn man dem netten Verkäufer dann sagt, dass man eigentlich gar keine Plastiktüten braucht, weil man eine eigene Tragetasche dabei hat, dann schaut er einen an als käme man vom Mond. Wie in vielen anderen Teilen der Welt gibt es auch hier kein Bewusstsein dafür, dass man für Müll, den man nicht produziert, auch kein Endlager finden muss. Wenn man das „Müllverhalten“ der Menschen beobachtet wird einem sehr schnell auffallen, dass sie ihren Müll einfach dort wegschmeißen, wo sie gerade sind. Öffentliche Abfalleimer gibt es kaum und wenn, dann ist der Weg dorthin sowieso viel zu weit. Abgesehen davon liegt ja schon überall Abfall herum, da kann man seinen gerade dazu schmeißen.
Wahrscheinlich kann sich jeder von uns noch an den Heimat-und-Sachkunde-Unterricht in der 3. Klasse erinnern. Der erste Projekttag war Müllsammeltag! Jede Klasse hat einen kleinen Bereich in der Stadt zugeteilt bekommen, es wurden Müllzangen, Handschuhe und Plastiksäcke verteilt und dann – „Auf die Plätze, Fertig, Los“ – wer am meisten Müll sammelt bekommt am Ende ein T-Shirt geschenkt. Die vollen Säcke wurden dann auf eine Pritsche geladen und wenn man einen netten Fahrer hatte, durfte man sogar hinten auf der Ladefläche mitfahren.
Aktionen wie diese stecken in Palästina noch in den Kinderschuhen. Seit einigen Jahren versuchen verschiedene Organisationen Aufklärungsarbeit zu leisten um ein Bewusstsein für Abfall zu schaffen und die Kinder für Umwelt, Ressourcen und Nachhaltigkeit zu sensibilisieren. In einigen Schulen wurde die Müll-Thematik schon in den Lehrplan integriert und Projekte zum Umgang mit Abfällen etabliert. Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes und das Goethe-Institut haben jüngst einen Kunst-Workshop veranstaltet. KünstlerInnen aus Deutschland und Palästina haben mit SchülerInnen aus Palästina die Müllhalden im Westjordanland und im Gazastreifen untersucht und wiederverwertbare Abfälle gesammelt. Anschließend wurden die Abfallprodukte zu Installationen zusammengefügt, die gleichzeitig Gedanken und Erfahrungen aus dem Alltag der SchülerInnen darstellen sollten. Einige der Exponate wurden sogar auf dem Medienkunstfestival in Berlin ausgestellt.
Neben der fehlenden Aufklärung und mangelndem Bewusstsein für Umwelt- und Naturschutz gibt es natürlich auch noch strukturelle Probleme bei der Entsorgung von Müll. „Mangelnde Staatliche Organisation“ ist hier das Stichwort. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat leider mit dem ein oder anderen, etwas größeren Problem zu kämpfen und deshalb wenig Kapazitäten um sich mit Nichtigkeiten wie Müll zu beschäftigen.
Mülltrennung? In Palästina gibt es eine ganz einfache Mülltrennung: Nämlich gar keine! Bio-, Plastik oder Sondermüll? Müll ist Müll. Nur etwa 3% des Abfalls, hauptsächlich Metall und Teile von Elektroschrott, werden recycelt bzw. wiederverwertet (Deutschland: ~60%). Müllcontainer? Ja die gibt es. Große metallene Behälter am Straßenrand. Alle umliegenden Häuser teilen sich einen Container. Der Müll wird in den schwarzen Tüten gesammelt, die man beim Einkaufen bekommt und dann in den Behälter geworfen. Wenn er voll ist wird er abgeholt, meistens. Wenn er voll ist und nicht abgeholt wird, wird er angezündet. Müllabfuhr? Es gibt tatsächlich eine Müllabfuhr in Palästina. Schicke weiße Autos, finanziert von den Vereinten Nationen. Sie fahren die Straßen ab und leeren die Müllcontainer, meistens. Mülldeponie? Sind die Laster voll, fahren sie zu einer der wilden Müllhalden im Umkreis. Allein im Großraum Ramallah gibt es 80 wilde Müllkippen. Ursprünglich waren sie nur als Lagerplatz gedacht, mangels Alternativen sind sie zur Deponie geworden.
Was dies für die Umwelt und die Natur bedeutet kann man sich vorstellen. Wahrscheinlich ist es den meisten Menschen noch nicht bewusst, aber dieser Umgang mit Abfällen wird noch ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen. Da die wilden Müllkippen nach unten nicht abgedichtet sind versickern giftige Stoffe, Säuren, Krankenhausabfälle und Chemikalien im Boden und gelangen so ins Grundwasser. Außerdem sind ein Großteil der illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland und rund 85% der palästinensischen Haushalte nicht an das Abwassersystem angeschlossen. Die Abwässer werden ungeklärt in zentrale Jauchegruben geleitet und versickern ebenfalls im Boden. Ein Desaster für ein Land, das seit Jahrzenten unter immenser Wasserknappheit leidet und elementar auf das Grundwasser, als Trinkwasser und zur Bewässerung in der Landwirtschaft, angewiesen ist.
Verstärkt wird diese, ohnehin schon alarmierende Situation, wie immer durch die Besatzung. Der israelisch-palästinensische Konflikt durchdringt jegliche politische und gesellschaftliche Ebene und hat leider auch Effekte auf die Müll-Problematik. Die Palästinenser haben nur zu ca. 30% des Westjordanlandes Zugang und können dementsprechend auch nur in diesem Gebiet ihre Abfälle deponieren. Die Israelis haben in der Realität jedoch die Kontrolle über etwa 97% des Landes. Sie nutzen diese überlegene Position um nicht nur den Müll aus den illegalen israelischen Siedlungen, sondern teilweise sogar Abfälle aus israelischem Staatsgebiet ins Westjordanland zu bringen. Am Ende landet alles in irgendeinem Tal zwischen Jenin und Jatta, wird mit Sand zugeschüttet und gerät in Vergessenheit. – Solange bis sich die Natur am Menschen rächt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert